Das „Pinching off“-Syndrom

Federanomalien bei Seeadlern

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Seeadler im Alter von ca. 10 Wochen mit
"Pinching off" Syndrom (Barsbek 2001).
Man beachte die Lücken in den Schwungfedern.
Foto: W. Stehle

Bei der Entwicklung der Vogelfeder kommt es gelegentlich, bedingt durch verschiedene äußere und innere Faktoren, zu Wachstumsstörungen, die sich in mehr oder weniger ausgeprägten Defekten der Federfahne und des Federschaftes zeigen. Vor allem beim Großgefieder, den Hand- und Armschwingen sowie den Schwanzfedern sind derartige Entwicklungsstörungen als feine durchsichtige Querstreifungen der Federfahne zu erkennen. Man nimmt an, dass diese als Grimale bezeichneten Defekte Stress-Situationen (z.B. Nahrungsmangel) während des Federwachstums widerspiegeln; auf dieser Deutung beruht die häufig gebrauchte Bezeichnung „Hungermale“. Grimale beeinträchtigen das Flugvermögen der Vögel selbst dann nicht wesentlich, wenn es gelegentlich zum Abbruch einzelner Federn an den Schwachstellen kommt. Die defekten Federn werden in der Regel bei der regulären Mauser durch intakte Federn ersetzt.

Von diesen häufiger auftretenden leichten Federdefekten zu unterscheiden sind seltene Anomalien besonders des Großgefieders, die im Extremfall zum Verlust des Flugvermögens der betroffenen Vögel führen. Solche schweren Gefiederstörungen wurden bislang vor allem bei Greifvögeln beschrieben.

Seit einigen Jahren sind auch bei frei lebenden Seeadlern wiederholt Fälle von schweren Missbildungen bei der Feder-Entwicklung bekannt geworden. Sie treten bei Nestlingen vor allem an den Hand- und Armschwingen sowie an den Stoßfedern auf (Abb. 1). Die betroffenen Federn sind stark verkürzt, weich lappig mit nur unvollständig entfalteter Federfahne (Abb. 2). Einschnürungen an der Basis des kurzen, oftmals gespaltenen Schaftes mit starken, unregelmäßigen Hornauflagerungen (Abb. 3) führen zu einem vorzeitigen, d.h. außerhalb des normalen Mauserzyklus erfolgenden Abwerfen der missgebildeten Federn. Dieser Vorgang wird als Pinching off (Abkneifen) bezeichnet. Im Gegensatz zu den Federdefekten durch Grimale sind beim Pinching off-Syndrom (POS) auch die nachwachsenden Federn gleichermaßen geschädigt, so dass, falls alle Schwung- und Schwanzfedern betroffen sind, der Vogel daher niemals seine Flugfähigkeit erreicht.

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Flügel eines Seeadler-Jungvogels mit POS.
Man beachte die verkürzte und deformierten Schwungfedern.
Foto: Klinik und Poliklinik für kleine Haustiere der FU Berlin

Diese behinderten Jungadler stürzen im Ästlingsalter nach erfolglosen Flugversuchen aus dem Horst ab und halten sich dann am Boden in der Nähe des Horstbaumes auf, können aber auch als „Fußgänger“ manchmal noch weite Strecken zurücklegen. Dabei werden sie von den Eltern noch wochenlang mit Nahrung versorgt, so dass sie insgesamt eine gute Kondition behalten. Wie lange diese Versorgung durch die Altadler anhält, ist nicht bekannt.
Nach Möglichkeit werden diese flugunfähigen Jungvögel von Mitarbeitern der Projektgruppe Seeadlerschutz eingefangen und wissenschaftlichen Untersuchungen zur Verfügung gestellt. Da eine längere Gefangenschaftshaltung der POS-Adler bei fortlaufend sich verschlechterndem Gefiederzustand im Sinne des Tierschutzes nicht vertretbar ist, müssen diese kranken Vögel eingeschläfert werden.

Die Ursachen für diese schweren Federmissbildungen sind bis heute nicht geklärt. Eine z. Z. von der Tierärztin Frau Dr. Kerstin Müller in der Klinik und Poliklinik für kleine Haustiere der Freien Universität Berlin koordinierte internationale Arbeitsgruppe mit Kooperationspartnern in verschiedenen Seeadler-Auffangstationen befasst sich seit mehreren Jahren mit der Erforschung dieser Krankheit, die nicht nur bei Seeadlern auftritt.
Dabei konnte bislang festgestellt werden, dass Infektionen (Ekto- und Endoparasiten incl. Viren) als Verursacher der Federmissbildungen ausscheiden. Dagegen zeigten histo- und cytopathologische Befunde eine vorzeitige übermäßige Keratinbildung (Verhornung) mit entsprechenden zellulären Veränderungen im basalen Bereich der Federanlage. Es ist nicht auszuschließen, dass derartige Störungen in der Koordination der Federentwicklung genetisch begründet sind. Zur Beantwortung dieser Frage könnten sowohl molekular- als auch populationsgenetische Untersuchungen zukünftig aufschlussreich sein.

Federn
Stark verkürzte Handschwingen
mit vollständig entfalteten Federfahnen
und deformierten Kielen von einem
Seeadler mit POS.
Foto: Klinik und Poliklinik für kleine
Haustiere der FU Berlin

Der erste Nachweis von POS wurde 1975 in Schleswig Holstein bei einem Seeadlerhorst am Warder See erbracht. Der kranke Jungadler entstammte einer Einerbrut. 1982 wurde in einem zweiten Horst desselben Reviers vermutlich bei demselben Brutpaar in einer Zweierbrut wieder ein POS-Jungvogel neben einem gesunden Nestgeschwister festgestellt und geborgen. Für den damals noch kleinen Seeadlerbestand in Schleswig-Holstein mit nur 4 Brutpaaren und einem geringen Bruterfolg war das ein schwerer Verlust. 1996 wurde an der Schlei nach Auffinden mehrerer missgebildeter Stoßfedern unter einem besetzten Adlerhorst ein weiterer Fall von POS bekannt, ohne dass der kranke Jungvogel aufgefunden werden konnte. Im Jahr 2001 gab es dann im Revier Barsbek und zuletzt 2006 im Revier Bordesholm in Horsten mit Einerbruten je einen POS-Adler. Der Jungvogel aus Barsbek wurde nach zweijährigem erfolglosem Therapie-Versuch im Wildpark Eekholt und der Jungvogel aus Bordesholm direkt nach dem Aufgreifen zur weiteren Untersuchung nach Berlin überstellt.

Das Pinching off-Syndrom scheint mit der gegenwärtigen Bestandszunahme beim Seeadler vermehrt aufzutreten. Allein in Deutschland (Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg und Thüringen;) wurden seit 1975 17 Seeadlernestlinge bzw. Ästlinge mit POS gefunden. Und auch aus anderen europäischen Ländern (Polen, Tschechien) wurde inzwischen von POS Vorkommen bei Seeadlern berichtet.
Die meisten POS-Adler entstammen Einerbruten, aber auch Zweier- und Dreierbruten mit je einem kranken Nestling neben einem bzw. zwei gesunden Nestgeschwistern wurden beobachtet. Nur ein Fall ist bisher bekannt, bei dem beide Nestgeschwister einer Zweierbrut die schweren Gefiedermissbildungen aufwiesen.
In den meisten Fällen haben Seeadlerpaare mit POS-Jungvögeln in den darauf folgenden Jahren gesunden Nachwuchs. Vereinzelt wurde aber auch beobachtet, dass POS-Nestlinge wiederholt im selben Revier auftraten (s. Schleswig-Holstein, 1975 und 1982). Dass es sich hierbei um dasselbe Brutpaar handelte, konnte nicht mit Sicherheit nachgewiesen werden.

Die wissenschaftlichen Untersuchungen zum Pinching off-Syndrom werden unter Beteiligung der Projektgruppe Seeadlerschutz Schleswig-Holstein fortgesetzt.

Prof. Rainer Kollmann